"Das Wort Gottes ist lebendig
und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige
Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und
Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der
Gedanken und Sinne des Herzens.“
Hebräer 4,12
Liebe
Leserinnen und Leser,
„Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach
Hause tragen.“, so heißt es bei Goethe. Das Gefühl,
etwas Schriftliches irgendwie im Griff zu haben, darüber
verfügen zu können, es bei Bedarf zur Hand zu haben, ist
damit sprichwörtlich geworden.
Gilt das eigentlich auch für die Bibel? Die Heilige
Schrift ist Gottes Wort. Aber sie ist auch ein Buch.
Bedeutet das, dass man Gottes Wort nun eben getrost nach
Hause oder wo auch immer hintragen kann, es bei Bedarf
benutzen oder auch nicht und es im Grunde auch
beherrschen zu können?
Solche Überlegungen gehen immer davon aus, dass wir es
sind, die etwas mit der Heiligen Schrift „machen“. Die
Epistel am Sonntag Sexagesimae, an dem es im Kirchenjahr
um das Thema „Wort Gottes“ geht, macht uns schonungslos
deutlich, dass es in Wirklichkeit genau umgekehrt ist.
Gottes Wort macht etwas mit uns.
Es handelt sich dabei nämlich nicht um unverbindliche
Wörter zwischen zwei Buchdeckeln, sondern Gottes Wort
ist lebendig, es ist Anrede, die gehört werden will,
nicht wie ein Sachbuch, das unpersönliche Information
bietet. Sondern die Heilige Schrift ist so persönlich,
dass uns in ihr eine „Person“ begegnet, Gott selbst, der
zu uns spricht.
Wie geschieht das? Auf ganz unterschiedliche Art und
Weise, wenn wir alleine oder mit anderen in der Bibel
lesen. Wenn wir die Lesungen im Gottesdienst hören und
vor allem bei der Predigt. Denn diese ist die „lebendige
Stimme des Evangeliums“, die gehört werden will. Es kann
auch Situationen im Alltag geben, in denen uns ein
Bibelwort in den Sinn kommt oder wir es wie zufällig
irgendwo lesen. Und dann spricht Gott zu uns. Natürlich
nicht jedes Mal in gleicher Intensität und in jedem Fall
unverfügbar für uns. Aber doch immer so, dass er in
unser Leben hineinspricht. Wir können und müssen nichts
„machen“, damit das passiert. Es passiert einfach, weil
Gott sein lebendiges und lebenschaffendes Wort
aussendet.
Das Wort ist das Wort des Herrn und wenn es uns
widerfährt, wie die Propheten im alten Testament es
genannt haben, dann erfahren wir etwas von seiner Kraft.
Dazu gehört auch die Erfahrung, dass es mehr ist als ein
paar ermutigende Postkartenweisheiten. Gottes Wort kann
uns auch kräftig in Frage stellen, es kann uns die Kraft
seines Anspruches ebenso kräftig spüren lassen wie
seines Zuspruchs, und das ist keinesfalls harmlos.
Gottes Wort ist nicht nur lebendig und kräftig, sondern
es ist auch scharf und durchdringend wie ein
zweischneidiges Schwert. Wenn man umgangssprachlich
sagt, etwas sei eine „zweischneidige Sache“, dann meint
man, die Sache habe zwei Seiten, zum Beispiel eine gute
und eine schlechte. So ist das mit dem zweischneidigen
Schwert aber nicht gemeint. Zweischneidig meint, die
Klinge ist beidseitig geschliffen, sodass man sie mit
der Vorder- und der Rückhand führen und bei Bedarf auch
umdrehen kann, wenn eine Seite stumpf geworden ist. Ein
solches Schwert ist eine sehr effektive Waffe und so
präzise und scharf, dass es sogar den Knochen vom
Knochenmark zu trennen vermag. Uns läge für einen
solchen Vergleich die Vorstellung von einem Skalpell
wahrscheinlich näher als die von einem Schwert.
Ein Schwert ist eine Angriffswaffe. Auch die Bibel weiß
an anderer Stelle (Epheser 6,17) vom „Schwert des
Geistes“ zu reden, das wir ergreifen sollen. Es mag
sein, dass uns die Vorstellung, dieses Schwert zu führen
und führen zu können und damit anzugreifen oder sich zu
wehren uns noch ganz angenehm erscheint. Jedenfalls
solange, bis man es im geistlichen und geistigen
Kampfgetümmel im Nahkampf wirklich führen muss.
Aber wir wollen dem Gedanken nicht ausweichen, dass
dieses Schwert, das Gottes Wort ist, zuerst in unser
Herz dringt als ein Richter unserer Gedanken und Sinne.
Gottes Wort deckt auf, was in unserem Herzen ist, die
Gefühle, die Wünsche und die Gedanken und es richtet
sie, wo sie Gottes Anspruch entgegenstehen. Wie schon
auf den ersten Seiten der Bibel in der Geschichte vom
Sündenfall beginnt jede Versuchung unseres Herzens mit
der Frage: „Ja, sollte Gott gesagt haben …?“ (1. Mose
3,1) Gerne versuchen wir dann auszuweichen, innerlich
wegzulaufen, nicht sehen zu wollen, was Gottes Wort uns
zeigt über uns selbst. Aber dieser Richter der Gedanken
und Sinne lässt nicht locker, vergleichbar mit dem
Propheten Nathan, der es König David nach Ehebruch und
Mord entgegenschleudert: „Du bist der Mann …“ (2. Samuel
12,7) – du hast diese Sünde getan.
Auch als Christen täuschen wir uns oft darüber hinweg,
was in unserem Herzen ist. Es bleibt dabei, „das Herz
ist ein trotziges und verzagtes Ding, wer will es
ergründen?“ (Jeremia 17,9) Darum ist es gut für unseren
Glauben, uns Gottes Wort auch da zu stellen, wo es uns
anklagt. Oft spricht es in unserem Gewissen der, wo wir
das zulassen, auch im (Beicht)-Gespräch mit Seelsorgern
oder in der Predigt. Predigten dürfen der Gemeinde nicht
die Kraft und Schärfe von Gottes Gesetz ersparen, weil
sonst auch der Trost des Evangeliums verhallt. Ja,
Prediger dürfen es sich nicht einmal selbst ersparen,
sich aus ihren eigenen Worten richten zu lassen.
Gottes Wort kommt uns so nah, dass es buchstäblich durch
Mark und Bein geht. Aber es ist nicht ein fremdes Wort,
sondern es ist Anspruch als Freispruch unseres Vaters,
der uns liebt. Und es ist gleichzeitig der Kirche
anvertraut und ihr Kennzeichen, wie es in dem Lied „Es
kennt der Herr die Seinen“ heißt:
„Er kennet seine Scharen,
am Glauben, der nicht schaut
und doch dem Unsichtbaren
als säh er ihn, vertraut;
der aus dem Wort gezeugt
und durch das Wort sich nährt
und vor dem Wort sich beuget
und mit dem Wort sich wehrt.“
Andrea Grünhagen